Erinnerungen an den "Gammlermord"

Am Donnerstag, 28. Juli fand die Übergabe der Gedenkstele für Martin Katschker statt

Prof. Dr. Klöckler steht neben der Gedenkstele

Der Gemeinderat hat in seiner Sitzung vom 28. Januar 2021 das Stadtarchiv und das Rosgartenmuseum beauftragt, auf der Grundlage des Gutachtens von Stadtarchivar Prof. Dr. Jürgen Klöckler eine Gedenktafel für den auf dem Blätzleplatz im Sommer 1970 getöteten Martin Katschker zu konzipieren. Diese Gedenktafel wurde am 28. Juli 2022 auf dem Blätzleplatz Presse und Rundfunk vorgestellt. Auf der Tafel ist der 17-jährige Martin Katschker (1953-1970) abgebildet. Die Vorgeschichte der Tat, das Tötungsdelikt vor Gericht sowie die Reaktion der Bevölkerung sind dort ebenfalls nachzulesen. Unten rechts auf der Tafel ist ein QR-Code zu finden, der zu einem ausführlichen wissenschaftlichen Aufsatz von Prof. Klöckler weiterleitet. Der Aufsatz öffnet sich als PDF-Datei und umfasst 34 Seiten.
 
Prof. Klöckler betonte im Rahmen der Vorstellung der Gedenktafel: „Es war mir wichtig Klarheit zu schaffen.“ Dieses Ziel wurde durch die Gedenktafel und vor allem durch das Gutachten und den daraus entstandenen Aufsatz erreicht. Die Tat, die sich am 29. August 1970 in Konstanz ereignete, wird näher erläutert. An jenem Samstag gegen 19:30 Uhr tötet ein 38-jähriger Hilfsarbeiter mit einem Kleintierschussapparat, einem sogenannten Hasentöter, einen 17-jährigen Auszubildenden. Schnell ist in der Öffentlichkeit vom Konstanzer „Gammlermord“ die Rede. Auch die Vorgeschichte wird aufgerollt und die Zustände, die zu dieser Zeit auf dem Platz herrschten, werden näher erläutert. Denn dort lagerten damals seit längerem jugendliche Abweichler, die durch lange Haare, eine Vorliebe für laute Rockmusik sowie Drogen- und Alkoholkonsum in der Altstadt auffielen. Von Teilen der Bevölkerung wurden sie als so genannte „Gammler“ bezeichnet. Gegen die Zustände auf dem Blätzleplatz protestierte ein NPD-Stadtverordneter. Er schlug in öffentlicher Sitzung die Bildung einer nicht-staatlichen „Bürgerwehr“ vor, um das Lagern der angeblichen „Gammler“ zu unterbinden.
 
Ein wichtiger Punkt in Zusammenhang mit dem „Gammlermord“ ist das Verhalten der Polizei, der Stadtverwaltung und des Oberbürgermeisters, die damals nicht eingegriffen haben. Rückblickend, so beurteilt es Prof. Klöckler, wäre Handeln seitens der Stadtverwaltung aber notwendig gewesen, wenn man die zweifellos außer Kontrolle geratene Lage in der Innenstadt und im Stadtgarten betrachtet. „Die politische Führungsspitze von Konstanz hat im Sommer 1970 offensichtlich ein stadtgesellschaftliches Problem entweder aus Konfliktscheue weitgehend ignoriert oder zumindest vollkommen falsch eingeschätzt“, so der Leiter des Stadtarchivs. Ein weiterer wichtiger Punkt sei, dass es sich – wie damals bereits gerichtlich festgestellt – bei der Tat um eine fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Nötigung gehandelt habe und nicht um einen Mord aus politischen, genauer: rechtsextremistischen Motiven.
 
Die Bevölkerung war mehrheitlich aufgebracht. Am 3. September 1970 fand eine Trauer- und Gedenkveranstaltung mit hunderten von Menschen statt. Gewerkschaftler, Kommunalpolitiker und Geistliche verurteilten als Redner die Tat ausdrücklich. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, ihre Einstellung gegenüber „Gammlern“ und Minderheiten zu überdenken. Schon damals lautete die Forderung: Toleranz gegenüber abweichenden Lebensentwürfen!
 
Der wissenschaftliche Aufsatz von Prof. Klöckler ist hier zu finden: https://www.konstanz.de/site/Konstanz/get/params_E-1449285635_Dattachment/407184/Aufsatz-Kloeckler-Konstanzer-Gammlermord.pdf
 

(Erstellt am 04. August 2022 11:26 Uhr / geändert am 05. August 2022 02:00 Uhr)