Besser mit Energiewende als mit ‚Weiter so‘

Kommunen, Wirtschaft und Wissenschaft zeigten bei Tagung auf der Insel Mainau Wege zur Energie- und Wärmewende auf – Fazit: Es ist noch sehr viel zu tun, um die gesetzten Klimaschutzziele zu erreichen.

Sechs Personen vor einer Glasfront
Die Veranstalter der Tagung „Energiesysteme im Wandel – Chancen für die Region“ (von links): Jörg Dürr-Pucher, Präsident der Bodensee-Stiftung, Volker Kromrey, Geschäftsführer der Bodensee-Stiftung, Dr. Anja Peck, Leiterin der Forstdirektion am Regierungspräsidium Freiburg, Bene Müller, Vorstand der solarcomplex AG, Philip Haug, Ökologischer Berater Mainau GmbH, und Daniel Ette, Leiter Infrastruktur, Nachhaltigkeit und Organisation Mainau GmbH. Bild: Bodensee-Stiftung / Anja Wischer

Inspiration, Information, Motivation und viel Austausch hat auch die diesjährige Tagung „Energiesysteme im Wandel – Chancen für die Region“ geboten. Zum 23. Mal hatten die solarcomplex AG, die Insel Mainau GmbH, die Landesforstverwaltung BW und die Bodensee-Stiftung zur zweitägigen Konferenz eingeladen. In diesem Jahr stellten die Referenten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung alternative Energiequellen neben Solar- und Windkraft sowie kommunale Klimaschutz- und Wärmewendestrategien vor.

Wo steht Baden-Württemberg auf dem Weg zur Klimaneutralität?

Zum Auftakt setzte die Keynote von Maike Schmidt, Leiterin des Fachgebiets Systemanalyse am Zentrum für Sonnenenergie und Wasserstoff-Forschung in Baden-Württemberg, einen aufrüttelnden Impuls. Auf die Frage „Wo steht Baden-Württemberg auf dem Weg zur Klimaneutralität?“ machte sie mit aktuellen Daten zu den Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr und Landwirtschaft anschaulich deutlich: Es gibt noch sehr viel zu tun, um die gesetzten Ziele zur Klimaneutralität bis 2040 und den Zwischenzielen bis 2030 zu erreichen. Aber: „Baden-Württemberg kann Klimaschutz“, betonte sie. In zahlreichen Leuchtturmprojekten werde dies auf den unterschiedlichsten Ebenen erfolgreich demonstriert. Nun brauche es unter anderem eine Transformationskultur, ein unumstößliches, parteiübergreifendes „Ja“ zum Klimaschutz, die Bereitschaft zur Veränderung und das „Machen“. Baden-Württemberg müsse gezielt die Instrumente auf Bundes- und EU-Ebene nutzen und mit schlagkräftigen eigenen Maßnahmen verstärken. Die Finanzierungsspielräume müssten von Land und Kommunen zusammen mit dem Bund erweitert werden, forderte sie.

Auch die folgenden Beiträge zeigten: Ohne finanzielle Anstrengungen sind Energie- und Wärmewende nicht zu schaffen. Aber sie sind zu schaffen, betonte Bene Müller, Vorstand der solarcomplex AG. In einer Aktualisierung der „Potentialstudie Erneuerbare Energien im Landkreis Konstanz“ zeigte er, dass vor allem bei Dach- und Freiflächen-Photovoltaik großes Potenzial ungenutzt ist. Sein Resümee: „Wir schaffen die Energiewende im Landkreis bis 2030 sicher nicht. Aber dass wir uns im Landkreis mit erneuerbaren Energien versorgen, ist machbar.“ Schon in seiner Begrüßung hatte er eindringlich gefordert: „Die Abkehr von fossilen hin zu alternativen Energien muss uns gelingen“ und mit Blick auf die jüngsten Überschwemmungen ergänzt: „Im Gegensatz zur Physik lässt sich Politik ändern.“

Alternative Energiequellen: Von Bioabfällen bis Abwasser

Eine oft unterschätzte Energiequelle präsentierte Christian Goldschmidt, Geschäftsführer der RETERRA Hegau-Bodensee GmbH. Das Kompostwerk vergärt in der eigenen Biogasanlage jährlich 75.000 Tonnen Bioabfälle. Aus den so gewonnenen sieben Millionen Kubikmetern Biogas werden in zwei Blockheizkraftwerken rund 16 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr erzeugt – genug für z.B. ein Drittel der Singener Haushalte. Einen Teil nutzt RETERRA selbst, der Rest wird ins öffentliche Netz eingespeist. Die Abwärme ist noch ungenutzt, was Goldschmidt gerne baldmöglichst ändern würde.

Wie industrielle Abwärme sogar grenzüberschreitend genutzt werden kann, zeigte Sabine Schimetschek, Geschäftsführerin von CALORIE Kehl-Straßburg. Rund 19.600 Tonnen CO<sub>2</sub> sollen jährlich eingespart werden, wenn Abwärme der Badischen Stahlwerke in Kehl rund 7000 Haushalte im Nahwärmenetz Straßburg versorgt. Die erste Wärmelieferung ist für 2027 geplant.

Eine weitere unterschätzte Energiequelle: Abwasser. Fünf bis 15 Prozent des Wärmebedarfs im Gebäudesektor könnten in Deutschland mit Wärme aus dem Abwasserkanal gedeckt werden, sagte Philip Jung, Projektentwicklung und Technik der UHRIG Energie GmbH. „Die Infrastruktur ist mit Kanalnetzwerk und 9000 Kläranlagen da. Was fehlt, sind Wärmetauscher.“ Diese könnten sowohl in bestehende wie neue Kanäle eingebaut werden, zeigte er an zahlreichen Beispielen. Einige hundert Meter tiefer blickte Prof. Dr. Ingrid Stober, Landesforschungszentrum Geothermie, die die Funktionsweise und Nutzbarkeit von Geothermie im süddeutschen Molassebecken erläuterte.

Wie energetische Sanierung den Einsatz regenerativer Energien ergänzen kann, zeigte Kai Feseker, Geschäftsführer der Baugenossenschaft Hegau e. G.. Am Beispiel einer achtstöckigen Häusergruppe in Singen zeigte er, dass auch Wohngebäude aus den 60er Jahren nach einer Modernisierung KFW 70-Standard erfüllen können.

Energie- und Wärmewendestrategien von Kommunen vor Ort

Wie sehen die Konzepte von Städten und Gemeinden sowie kommunaler Versorger vor Ort aus? Hierzu erlaubten die Städte Konstanz und Radolfzell, der Landkreis Lörrach und das „Stadtwerk am See“ mit Beispielen zu geplanten bzw. modernisierten und weiterentwickelten Wärmenetzen Einblicke. Schon eingangs hatte Dr. Anja Peck, Leiterin der mitveranstaltenden Forstdirektion am Regierungspräsidium Freiburg, die Besonderheit der Tagung hervorgehoben: „Hier präsentieren Praktiker ihre Erfahrungen, und zwar ehrlich.“ Die Konferenzgäste könnten von deren Erfolgen lernen, ohne deren Fehler wiederholen zu müssen.

Dass sich der Einsatz lohnt und „Erneuerbare“ für eine Gemeinde finanziell rentieren, unterstrich der Tengener Bürgermeister Selcuk Gök mit beeindruckenden Zahlen aus seiner Gemeinde, die im Landkreis Konstanz mit Freiflächen- und Dach-PV-Anlagen, Biogas und Windkraft den breitesten Energiemix aufweist.

Damit erfüllte er die Forderung von Jörg Dürr-Pucher, Präsident der Bodensee-Stiftung, zur Tagungseröffnung: „Wir müssen herausstellen, dass 2040 mit alternativen Energien nicht nur machbar, sondern im Gegensatz zum ‚Weiter so‘ auch schöner und besser wird.“ Er sieht Baden-Württemberg nicht davor gefeit, dass auch hier Klimaleugner mehr Macht bekommen. „Mein großer Wunsch: Seien wir politischer, reden wir mehr und zeigen wir, dass die Energiewende richtig und wichtig ist“.

Die nächste Tagung findet am 25. und 26. September 2025 auf der Insel Mainau statt. Die Vorträge der jüngsten Veranstaltung sind wie schon die der Vorjahre in wenigen Wochen auf der Website www.bioenergie-region-bodensee.de abrufbar.

(Erstellt am 08. Juli 2024 12:31 Uhr / geändert am 25. September 2024 09:21 Uhr)